Spagat und Spitze

Für die meisten meiner jungen Ballettschülerinnen gibt es zwei große Ziele: Auf Spitze zu stehen und den Spagat zu schaffen. Wie all diejenigen, die diese hoch anerkannte Dehnübung mal ausprobiert haben, wissen sie ganz genau – schmerzfrei geht das nicht. Allwöchentlich kommt meine freudige Aufforderung als Tanzpädagogin am Ende der Ballettstange, „Spagat!“ Und jede Woche wird die Aufforderung von einem tröstenden Zuspruch begleitet, „Ihr müsst Geduld haben. Irgendwann wird es schon klappen.“ Einen gewissen Druck von außen gibt es auch immer. Sowie sich eine Ballettschülerin zum Hobby bekennt, fragen die Mitschüler fordernd, „Kannst du schon Spagat?“ Wenn meine Schülerinnen dann jede Woche mit Spagat-Frust kämpfen und manche sogar deswegen dem Ballett den Rücken zukehren, ist es nicht immer einfach sie bei der Stange zu halten. Ich lenke deswegen ihre Aufmerksamkeit auf die hohe Auffassungsgabe, die sie beim Erlernen der Tanzkombinationen immer wieder beweisen, die Grazie und die Musikalität, die sich stets bei ihnen steigern oder die eiserne Disziplin, die sich schon in jungen Jahren bei Balletttänzern entwickelt. Spätestens aber beim nächsten „Zeig mal deinen Spagat“ im Sportunterricht kehrt der Frust zurück.

Bezüglich der Kulturellen Bildung existiert leider eine häufig vertretene Meinung: Sie lohnt sich nur, wenn hohes Niveau und künstlerisch anspruchsvolle Ergebnisse im Unterricht entstehen. Solches leistungsorientiertes Denken macht mich manchmal richtig wütend. Kulturelle Bildung ist ein wichtiger Bestandteil der allgemeinen Bildung und vermittelt nicht nur vielseitige Ausdrucks- und Kommunikationsformen, sondern auch soziale Kompetenzen und hilft bei der Entdeckung und Entwicklung der eigenen Kreativität: Schlüsselkompetenzen, die später in jedem Beruf äußerst hilfreich sein können. Beim Grübeln über dieses Thema fiel mir der Vergleich zu den oft überhöhten Ansprüchen an Ballettunterricht (z.B. den vorhergenannten Spagat-Frust) ein.

Aber eigentlich möchte ich von einem schönen Erlebnis neulich im Unterricht erzählen. Gelegentlich wird bei der Spagatübung fotografiert, um die erhofften Fortschritte zu dokumentieren. Eine der Schülerinnen, die bis dahin keine großen Dehnerfolge an den Tag gelegt hatte, ließ sich in den Spagat hinunter. Und ihr Spagat wurde vor meinen Augen immer tiefer. Auf meine Frage, wo denn plötzlich dieser stolze Spagat herkäme, meinte sie schlicht, „Ich habe geübt“. Das musste natürlich festgehalten werden. Erst später zuhause fiel mir auf, dass ich diese bestimmte Gruppe vor kurzem schon fotografiert hatte. Zwischen den beiden Fotos liegen sage und schreibe sieben Tage. Mit Erlaubnis der Eltern und zur Ermutigung anderer zeige ich hier die Bilder. Sieben Tage. Seitdem gibt es einen sichtbaren Unterschied bei diesem Mädchen im Unterricht: Ihr Auftreten ist klar, sicher und schlichtweg motivierter.

Solche Erlebnisse beflügeln natürlich meine pädagogische Motivation. Aus diesem Grund bin ich mit Leidenschaft Lehrerin. Wenn ein junger Mensch sich eine neue Fähigkeit aneignet und einen direkten, spürbaren Lohn für Selbstdisziplin in Form eines solchen Erfolgserlebnis erfährt, dann hat dieser Mensch einen großen Schritt vorwärts in seiner Persönlichkeitsbildung getan. Jetzt komme ich natürlich wieder ins Grübeln, weil in meiner Geschichte die Fähigkeit, Spagat zu können, letztendlich doch Erfolg verschaffte…

„Der wahre Sinn der Kunst liegt nicht darin, schöne Objekte zu schaffen. Es ist vielmehr eine Methode, um zu verstehen. Ein Weg, die Welt zu durchdringen und den eigenen Platz zu finden.“ – (Paul Auster)



Consent Management Platform von Real Cookie Banner